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Die Definition von »Ermittlungsmaterial« zur Einsichtnahme des Angeklagten

 

Einführung

Im Prinzip hat jeder Mensch, der eines kriminellen Vergehens angeklagt ist, das Recht, in das Ermittlungsmaterial Einsicht zu nehmen, das sich in Händen des Klägers befindet er muss versuchen können, den Beweiskorpus zu widerlegen, der im Rahmen eines Strafverfahrens gegen ihn eingereicht wird und auf den der Kläger seinen Schuldspruch basieren will.

Wie weit reicht aber dieses Recht auf Einsichtnahme? Welche Art von Unterlagen gehören in den Rahmen der Definition des Begriffs »Ermittlungsmaterial« und welche sprengen diesen?

So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob die Anklage verpflichtet ist, einem Beschuldigten Dokumente zu offenbaren, von welchen sie argumentiert, dass sie dessen Schuldspruch nicht stützen, und dass sie daher auch nicht beabsichtige, sie dem Gericht vorzulegen. Tatsächlich sind es Zweck und Pflicht der Anklage, die Wahrheit aufzudecken und nicht unbedingt einen Schuldspruch des Angeklagten zu erreichen. Weiter ist es bei Vorhandensein von Beweismaterial, das den Angeklagten entlasten könnte, ihre Aufgabe, entweder a priori keine Anklageschrift einzureichen, oder dem Gericht diese Beweise vorzulegen. Ist aber auch der Angeklagte berechtigt, zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft diese ihre Pflicht erfüllt hat?

Eine weitere Frage ist, ob das Recht auf Einsichtnahme eines Angeklagten zeitlich und/oder geografisch begrenzt ist.

Mit dieser und weiterer Überlegungen wollen wir uns im vorliegenden Artikel auseinandersetzen.

 Die gesetzliche Regelung

Im Gegensatz zum Zivilverfahren, bei dem laut Gesetz eine weitreichende Pflicht zur Offenbarung sämtlicher Unterlagen besteht, über die eine der Parteien verfügt (sofern diese für den Disput zwischen den Parteien relevant sind), ist ein Angeklagter in einem Strafverfahren ganz und gar nicht verpflichtet, seine Argumente und die Beweise, die ihn bei seiner Verteidigung gegen die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft unterstützen sollen, darzulegen. Die Anklage hingegen ist durch Verfügungen zur Offenbarung von Ermittlungsmaterial gebunden, die das Thema dieses Artikels sind.

Das Thema der Enthüllung von Ermittlungsmaterial wird in Paragraf 74 des Strafrechts (kombinierte Fassung) 5742-1982 (im Folgenden »das Gesetz«) geregelt, der bestimmt:

»74. Einsichtnahme in das Ermittlungsmaterial [67] [Korrektur: 1995,2009 (2)]
(a) Wird eine Anklageschrift zu einem Kriminalfall oder einem Gesetzesübertritt eingereicht, sind der Beschuldigte und sein Rechtsvertreter sowie eine von diesem Rechtsvertreter oder auch eine vom Beschuldigten mit Einverständnis der Staatsanwaltschaft dazu bevollmächtigte Person dazu autorisiert, zu jedem angemessenen Zeitpunkt in das Ermittlungsmaterial Einsicht zu nehmen und dieses zu kopieren, ebenso wie in die Liste des gesamten Materials, das von der untersuchenden Behörde gesammelt oder verzeichnet wurde, die Anschuldigung betrifft und sich in Händen des Klägers befindet.
 (b) Ein Beschuldigter ist berechtigt, das Gericht, dem die Anklageschrift eingereicht wurde, zu ersuchen, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, ihm Einsichtnahme in jegliches Material zu bewilligen, das seiner Aussage nach Ermittlungsmaterial darstellt und ihm nicht zur Einsichtnahme vorgelegt wurde.«

 

 

Die Interpretation der Verfügungen von Paragraf 74 des Gesetzes in der Rechtsprechung der Gerichte

Die Gerichte betrachteten das Recht auf Einsichtnahme in Ermittlungsmaterial als ein Recht, das sich direkt aus zwei anderen ergibt: dem Grundrecht eines Beschuldigten, sich vor Gericht zu verteidigen, und seinem Recht auf ein faires Verfahren. So hieß es zum Beispiel in Diverse Strafanträge 4157/00 Ofer Nimrodi gegen den Staat Israel, Urteile Amtsgericht nun daled* (3) 625, Seite 633:

»Zweck einer Einsichtnahme des Beschuldigten in das Ermittlungsmaterial ist es, diesem zu ermöglichen, sein Recht auf ein faires Gerichtsverfahren wahrzunehmen, indem der Beschuldigte die uneingeschränkte Gelegenheit bekommt, seine Verteidigung gegen die ihm angelasteten Beschuldigungen vorzubereiten…«

Unter diesem Aspekt neigten die Gerichte dazu, dem Begriff »Ermittlungsmaterial« eine ausgedehnte Interpretation zu verleihen eine Tendenz, die sich zunehmend verstärkte.

 

Die Rechtsprechung in der Vergangenheit

In früheren Urteilen ging man mit dem Recht auf Einsichtnahme zurückhaltender um, und die Gerichte zeigten sich den Versuchen eines Angeklagten, sämtliche Unterlagen einzusehen, nicht allzu gewogen.

So akzeptierte das Gericht zum Beispiel in Diverse Strafanträge 1372/96, Knessetabgeordneter Aryeh Derey gegen den Staat Israel, Urteile nun (1) 177, das Argument der Staatsanwaltschaft, die Verteidigung könnte sich der fraglichen Details bedienen, um »neue« Beweise zu erlangen – (daher)** müsse sich die Verteidigung mit der Einschätzung der Staatsanwaltschaft begnügen, dass ihr die besagten Details nicht hilfreich wären. Wörtlich sagte das Gericht:

»…Es ist davon auszugehen, dass die Staatsanwaltschaft ihre Erwägungen zur Sache auf Fairness und Fachkenntnis stützt, so dass es keinen Sinn hat, ihr zu widersprechen und das Gericht sich nicht in ihre Entscheidung einmischen wird…« (siehe: Berufungsgericht 400/84, mem 486 3) und Oberstes Gericht 233/85, lamed tet 129 (4).

»…Es ist richtig, dass es kein Leichtes ist, von der Verteidigung zu verlangen, sich auf die Fähigkeit der Anklage verlassen, das Potenzial einzuschätzen, das sich in einer derartigen Information zu ihren Gunsten verbirgt. Dennoch ist der Ausgangspunkt wie gesagt, dass die Staatsanwaltschaft ihre Pflicht in diesem Zusammenhang mit Treue, Fairness und professioneller Fachkenntnis erfüllt; und nur da, wo die Umstände einen gegenteiligen Schluss zwingend machen, wird das Gericht die Entscheidung der Staatsanwaltschaft eingehend überprüfen.

So verhält es sich im Hinblick auf jede Einstufung des Materials vor Einreichen einer Anklageschrift, wobei es durchaus möglich ist, dass bestimmtes Material im Verlauf der Verhandlung gar nicht zur Sprache kommt, da es von der Staatsanwaltschaft als Material eingestuft wurde, das nicht in den Rahmen von ›Ermittlungsmaterial‹ fällt; und so verhält es sich auch da, wo im Verlauf der Verhandlung das Vorhandensein von ›zusätzlichem Material‹ entdeckt wird, die Staatsanwaltschaft jedoch erklärt, dieses sei für die Verteidigung nicht ›relevant‹…

E. Wie gesagt gilt meines Erachtens die Grundannahme, dass die Staatsanwaltschaft ihre Pflicht mit Erfahrung und Fairness erfüllt; und solange keine andere Schlussfolgerung zwingend wird, gibt es für eine Einmischung des Gerichts in diese Angelegenheit keine Rechtfertigung.

Reine Neugier, der Wunsch, Materialien über Dinge, die mit der Sache nichts zu tun haben, ›zur Verteidigung des Beschuldigten‹ zu erlangen und die Bereitschaft, ›auf die Jagd zu gehen‹, um vielleicht etwas zu finden, das die Verteidigung unterstützen könnte – (all das) reicht nicht aus, um dem besagten Grundprinzip den Boden zu entziehen.«

In Oberstes Gericht 233/85 Al Huseil gegen die israelische Polizei, Urteil lamed"tet (4) 124, wurde die erweiterte Auslegung differenziert und trotz des Beschlusses, dass der Begriff »Ermittlungsmaterial« im weiten Sinn auszulegen sei, festgestellt:

»…bei Benutzung des gesunden Menschenverstands muss man wie gesagt auch nicht in die Ferne schweifen, und solche Beweise in den Begriff ›Ermittlungsmaterial‹ miteinschließen, deren Relevanz für den vorliegenden Strafantrag fernliegend und nebensächlich ist.«

Weiter wurde dort festgestellt, die Hoffnung der Verteidigung, in der Ermittlungsakte Material zu finden, das ihr helfen würde, die Polizei oder die Staatsanwaltschaft zu kritisieren, rechtfertige nicht, die in dieser Sache beantragten Unterlagen in die Interpretation von »Ermittlungsmaterial« mit einzubeziehen.

In Oberstes Gericht 1885/91 Eli Tzuberi gegen die Distriktstaatsanwaltschaft Tel Aviv und andere Urteil mem hey (3) 630,634 wurde beschlossen, das Recht eines Angeklagten auf Erhalt des Ermittlungsmaterials sei nur da gegeben, wo dieser auf einen Sachverhalt verweisen könne, der seinen Verdacht offenbar stütze.

 

Die Tendenzwende

Seit den oben zitierten Urteilen hat die Rechtsprechung einen weiten und bedeutenden Weg hin zu einer nachgiebigeren und breiter gefassten Haltung zurückgelegt.
Siehe dazu zum Beispiel
Diverse Strafanträge 9322/99 Massarva gegen den Staat Israel, Urteil nun daled (1)375, 381-382, wo es heißt:

»Die Anklage wird angewiesen, der Verteidigung jedes als ›Ermittlungsmaterial‹ geltende Dokument auszuhändigen, wobei dieser Begriff im weitesten Sinn auszulegen ist […] Dabei hat die Staatsanwaltschaft keine Erwägungen darüber anzustellen, was dem Verteidiger für seine Verteidigung zweckdienlich erschienen könne und was nicht, und ihm muss die Möglichkeit überlassen werden, sich auf jedes relevante Material zu stützen, das ihm auf Grund seines professionellen Gutdünkens bei seiner Verteidigung dienen könnte.«

Die Tendenz zur Erweiterung des Begriffs »Ermittlungsmaterial« steht im Einklang zur Entdeckung der tatsächlichen Wahrheit, die doch im Strafrecht eines der Hauptziele darstellt. Die Umsetzung dieses Ziels ist nicht nur rein privates Interesse der Konfliktparteien, sondern sogar von allgemeinem, öffentlich-gesellschaftlichem Belang. Nur durch Aufdeckung der ganzen Wahrheit kann man Recht walten lassen die Schuldigen schuldig, und die Unschuldigen freisprechen. Dabei besteht auch eine absolute Konvergenz zwischen dem Recht auf Einsichtnahme eines Angeklagten in das Ermittlungsmaterial und zwischen dem öffentlichen Interesse an der Aufdeckung der Wahrheit, wie es im Urteil des Berufungsgerichts 4765/98 Nidal Abu Saade gegen den Staat Israel Urteil nun gimel (1) 823,838 (1999) heißt:

»[…] zwischen dem Recht eines Angeklagten auf Einsichtnahme in Ermittlungsmaterial und dem öffentlichen Interesse, die Wahrheit aufzudecken, besteht eine vollständige Überschneidung, da man die Wahrheit nicht enthüllen kann, wenn der Beschuldigte überhaupt keine Möglichkeit hat, auf ein belastendes Beweisstück einzugehen und die Glaubwürdigkeit desselben zu überprüfen sei es mittels eines Kreuzverhörs, oder sei es mittels Vorlage von Beweisen, die dieses widerlegen weil relevantes Ermittlungsmaterial nicht enthüllt worden ist.«

Eine ausgedehnte Interpretation des Begriffs »Ermittlungsmaterial« durch das Gericht stimmt auch mit der Haltung des Rechtswissenschaftlers Y. Kedmi überein, der davon überzeugt ist, dass:

»Jedes Material, das für die Ermittlung oder den Schuldspruch ›relevant‹  ist will heißen: das imstande ist, die Umstände der Ermittlung zu ›erhellen‹ und zur Klärung der dem Angeklagten angelasteten Schuld ›beizutragen‹   sollte ins ›Ermittlungsmaterial‹  miteinbezogen werden; […] diese erweiternde Bedeutung ist aufgrund der Tendenz erforderlich, dieses Thema mit ›Fairness‹  anzugehen, sowie aufgrund des Willens, der Gefahr einer ›Rechtsverdrehung‹  für den Angeklagten vorzubeugen; wobei das Gesetz gilt: ›Gegenstand der Untersuchung ist nicht die Intelligenz eines begabten Verteidigers und es sind auch keine Spekulationen darüber anzustellen, inwiefern er das ihm verfügbare Material ausnützen könnte‹.« (Kedmi, Al Seder haDin baPlilim [hebr. »Über das Strafrecht«], Teil 2 (Band 1) Ausgabe 2009, S.1004)

 

Der heute vorherrschende Ansatz – die Relevanz des Materials für die Anschuldigung mit einer soliden Basis für das Argument, dass dieses die Klärung der Anschuldigung beeinflussen könnte

Die weite Auslegung, die die Gerichte dem Begriff »Ermittlungsmaterial« wie oben erläutert beimessen, gilt jedoch nicht uneingeschränkt.

Einerseits wurde festgelegt, es bestehe keine Notwendigkeit einer direkten Verbindung zwischen dem zur Einsichtnahme beantragten Material und dem Ermittlungsmaterial, es genüge lediglich eine indirekte Verbindung oder sogar eine, deren Existenz fraglich sei. Andererseits verankerte sich jedoch die Forderung nach der Notwendigkeit einer stichfesten faktischen Grundlage für die Annahme des Angeklagten, das Material könne tatsächlich zu seiner Verteidigung beitragen.

In der oben zitierten Affäre Ofer Nimrodi erläuterte das Gericht die Doppelprüfung der Definition des Begriffs »Ermittlungsmaterial« wie folgt:

»Das Gericht hat im Sinn des Zwecks von Paragraf 74 (a) einen Test zur Bestimmung des Begriffs ›Ermittlungsmaterial‹ festgelegt. Der Zweck ist die Wahrung des Rechts eines Angeklagten auf ein faires Gerichtsverfahren und der Test, der diesen Zweck verwirklicht, ist der Test der Relevanz des Materials für die Anschuldigung. In anderen Worten: jedes die Anschuldigung betreffende Material ist ›Ermittlungsmaterial‹ und der Angeklagte hat das Recht, dieses einzusehen. (Das gilt) nicht nur für einen direkten oder sicheren Zusammenhang. Wegen der ungeheuren Wichtigkeit des Rechts eines Angeklagten auf ein faires Gerichtsverfahren ist auch ein indirekter Betreff ausreichend und sogar befriedigend, um Material in ›Ermittlungsmaterial‹  zu verwandeln, vorausgesetzt, es besteht eine reale Grundlage für die Annahme oder die Hoffnung des Angeklagten, dass das Material die Klärung der gegen ihn erhobenen Anschuldigung tatsächlich beeinflussen könne.«
(Die Hervorhebung ist im Original nicht vorhanden – J.W.)

Tatsächlich wurde diese Regel in Oberstes Gericht 9264/04 Der Staat Israel gegen das Bezirksgericht Jerusalem Urteil samech (1) 360,379 vom Gericht wiederholt:

»Daher genügt im Allgemeinen – das heißt da, wo keine besonderen Erwägungen vorhanden sind, z.B. die Befürchtung, die Rechte eines anderen Menschen oder ein geschütztes anderes Interesse könnten geschädigt werden, und sich das Material in Händen der Anklage befindet – dass der Verteidiger auf das leiseste Anzeichen verweist, aus dem hervorgehen könnte, dass es sich um ›Ermittlungsmaterial‹   handelt, oder auf irgendeine und sei es noch so abwegige Möglichkeit, dass das Material für die Beschuldigung relevant sein, und der Verteidigung des Angeklagten dienen könne, damit das Gericht die Anklage anweist, diesem das Material gemäß Paragraf 74 (d) des Strafrechts zur Einsichtnahme verfügbar zu machen.«

Dieser Regel nach sind Fälle denkbar, bei denen das Gericht den Antrag eines Angeklagten zur Einsichtnahme in das in Händen der Anklage befindliche Material ablehnt, weil es zu dem Schluss kommt, dass das beantragte Material dem Angeklagten nicht helfen könne.

So weigerte sich das Gericht zum Beispiel in Strafakte (Amtsgericht Haifa) 2162-06 Aviad Visuli gegen den Staat Israel, takdin-Amtsgericht (3) 2010, 7424 8,74257 (2010), dem Angeklagten zu genehmigen, in Materialien und Unterlagen Einsicht zu nehmen, die von der Klägerin im Hinblick auf den Zeugen der Anklage gesammelt worden waren, und stellte fest, es sei dem Antragsteller nicht gelungen, auch nur den ›leisesten Hinweis‹ zu erbringen, dass das beantragte Material für seine Verteidigung relevant sein könne.

Ein weiteres Beispiel für einen Fall, wo dem Recht auf Einsichtnahme nicht stattgegeben wurde, findet sich in Strafakte (Amtsgericht Nazareth) 9834-01-09 der Staat Israel gegen Ale Churi, takdin-Amtsgericht (zwei) 2009, (2009) 25135, wo der Angeklagte beantragte, die in der Akte von den Ermittlungsbehörden und der Staatsanwaltschaft erteilten Vorgaben zur Vervollständigung der Untersuchung einzusehen, um festzustellen, ob es bei den Ermittlungen Fehler gegeben habe, die seiner Verteidigung vielleicht nützlich sein, oder ihn im Falle seines Freispruchs sogar entschädigungsberechtigt machen könnten.

Das Gericht lehnte diesen Antrag mit folgender Begründung ab:

»Das Gesetz definiert nicht ausdrücklich, was ›Ermittlungsmaterial‹ ist, wobei die Gerichte, als sie gefordert waren, die Definition von ›Ermittlungsmaterial‹  zu interpretieren, das zur Einsichtnahme des Angeklagten und seines Verteidigers freigegeben werden sollte, deutlich zwischen in der Ermittlungsakte befindlichen internen Notizen und kein Ermittlungsmaterial darstellenden Korrespondenzen und zwischen anderen Dokumente in der Akte unterschieden, die für die Klärung der Schuldfrage oder die Verteidigungsführung relevant sind und etwas enthalten, was die Erwägungen des Gerichts bei der Auswertung der Ergebnisse beeinflussen könnte…

Angesichts des oben Gesagten und nachdem ich die Unterlagen durchgesehen habe, in die der Verteidiger einzusehen beantragte, kam ich zu dem Schluss, dass die mit  *nun, mem hey, lamed tet, lamed, kaf hey, yud sayin gekennzeichneten Dokumente gemäß der Definition bei der Rechtsprechung kein Ermittlungsmaterial darstellen, sondern dass dabei von internen Korrespondenzen die Rede ist, die nichts enthalten, was die Bestimmung irgendwelcher Ergebnisse beeinflussen könnte, und dass diese für die Verteidigungsführung des Angeklagten nicht relevant sind, weshalb ich den Antrag ablehne und beschließe, dass letzterer nicht berechtigt ist, die besagten Unterlagen einzusehen.«    (Die Hervorhebung ist im Original nicht vorhanden – J.W.)


Auch im Hinblick auf das Verzeichnis der Ermittlungen in einer Ermittlungsakte wurde grundsätzlich festgelegt, dass es sich dabei nicht um Ermittlungsmaterial handle, das ausgehändigt werden müsse.

Siehe: Diverse Anträge (Bezirksgericht Chi') 2469/08 Mesael Rabiye gegen den Staat Israel, Takdin-Bezirgsgericht (2) 2008,8877, 8879, wo das Gericht beschloss:

»Im vorliegenden Fall bin ich der Überzeugung, dass das Verzeichnis, das Notizen umfasst, die zum Großteil Auswertungen des Ermittlungsmaterials und interner Korrespondenzen zwischen der Polizei und der Staatsanwalt beinhalten, kein Ermittlungsmaterial darstellt. Im Hinblick auf die im Verzeichnis aufgeführten Ermittlungsaktivitäten führte die Antragsgegnerin schließlich an, zu diesem Material gäbe es entsprechendes Parellelmaterial im Ermittlungsmaterial, das den Verteidigern ausgehändigt worden sei. Diese Art einer Aushändigung von Material an die Verteidiger ist unüblich, und daran ist nichts zu bemängeln. Mehr als das ein Verzeichnis der geplanten Ermittlungsaktivitäten, von denen ein Teil ausgeführt worden ist und deren Aufstellung sich in Händen der Verteidiger befindet, gelten als interne Notizen und nicht als Ermittlungsmaterial, zu dessen Einsichtnahme der Antragsteller und die weiteren Angeklagten ein Recht hätten, oder das etwas enthielte, was ihre Verteidigung unterstützen würde. Hinzu kommt, dass diese Unterlagen auch keinerlei Beweiskraft besitzen die Gedanken eines Ermittlers gelten nicht als Beweis. Sobald die Ermittlungen zu einem Beweis herangereift sind, ist deren Frucht der Beweis, und nicht die Gedanken oder Erwartungen des einen oder anderen Ermittlers. Wenn eine erforderliche Ermittlungsaktivität nicht durchgeführt wurde, dann ist das ein Versagen der Ermittlungsarbeit, ungeachtet dessen, ob die Ermittler nun geplant hatten, diese Aktivität durchzuführen und es letztlich nicht taten, und/oder ob die Ermittler deren ermittlerische Notwendigkeit übersehen haben.«

Auffallend ist dabei, dass der Antrag, das Untersuchungsverzeichnis einzusehen, mit der Begründung abgelehnt wurde, dass es für das Material dieses Verzeichnisses im von der Klägerin eingereichten Beweismaterial Parallelen gäbe.

In einem anderen Fall, in dem es für das beantragte Material im Beweismaterial keine Parallelen gab, war das Gericht bereit, sich mit dem Antrag auseinanderzusetzen und sagte dazu Folgendes:

»In Fällen, wo tatsächlich ein Verdacht besteht, eine gerichtliche Partei habe keinen Zugang zu dem Rohmaterial, das sich in Händen der Behörden befindet, kann und muss das Gericht diese Unterlagen begutachten und prüfen, ob sich eine angemessene, kreative Lösung finden lässt, die das grundliegende Interesse der Geheimhaltung uneingeschränkt schützt und dabei die Informationsdetails weitergibt, die weitergegeben werden sollten. Die Auswahl an Werkzeugen ist vielfältig und man sollte diese gebrauchen.« Siehe: Zivilberufungsamt 7867/06 Finanzamt Haifa gegen Moshe Luski, Takdin-Oberstes Gericht (1) 2008, 60,64.

 

Unterlagen, die sich im Ausland befinden

Eine weitere Frage, die eine gerichtliche Entscheidung erfordert, ist, ob Material, das sich außerhalb der Staatsgrenzen Israels befindet, ebenfalls als »Ermittlungsmaterial« gelten kann, in das einzusehen ein Angeklagter berechtigt ist.

In der Vergangenheit lehnten die Gerichte es ab, Material, das sich außerhalb des Hoheitsgebietes des Staates befand, als »Ermittlungsmaterial« zu definieren, und sei es aus dem Grund, dass die Anklage oder die Polizei nicht autorisiert waren, denjenigen, die (dieses Material*) in Händen hielten, anzuordnen, mit ihnen zu kooperieren und ihnen Ersteres zur Verfügung zu stellen (Diverse Strafanträge 1153/98 Zvi Ben Ari gegen den Staat Israel vom 2/02/98).

Diese Situation änderte sich mit Erlass des Gesetzes der Rechtshilfe zwischen Staaten 5758-1998, das den Umgang mit von ausländischen Saaten gestellten Anträgen auf Rechtshilfe regeln sollte, ebenso wie Anträge des Staates Israel an fremde Staaten.

In einem Urteil, das erst nach Verabschiedung des Gesetzes verkündet wurde, hieß es, ein Gericht sei befugt, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, Material zu besorgen und es dem Gericht zur Einsichtnahme vorzulegen, um zu entscheiden, ob es sich dabei um »Ermittlungsmaterial« handle, und das auch, wenn es um Material gehe, das sich im Ausland befinde. Dabei werde die Tatsache, dass das Material sich nicht in Händen der Anklage befände, allerdings eine Komponente darstellen, die das Gericht bei seinen Erwägungen, seine diesbezügliche Autorität geltend zu machen, berücksichtigen werde.

Siehe: *Diverse Strafanträge 6237/06 Henry Kloschendler gegen den Staat Israel, Takdin-
                    oberstes Gericht (vier) 2006,4324.

*Strafakte (Bezirksgericht Beer-Sheva) 8150/08 Biton Ronit gegen den Staat Israel, Takdin-
   bezirksgericht (1) 2009,16612,16614 (2009).

 

 Nicht-existentes Material

 

Wie verhält es sich aber, wenn ein Angeklagter überzeugt ist, die Anklage besäße bestimmtes Material, diese jedoch ihrerseits erklärt, sie besäße kein solches?

Im oben zitierten Fall Aviad Visuli kam diese Problematik zur Sprache. Das Gericht entschied, Zweck von Paragraf 74 des Gesetzes sei es, eine sachlich-juristische Klärung der Definition von existentem Material durchzuführen, unter dem Aspekt der Frage, ob die Anklägerin dieses aushändigen müsse oder nicht. Diese Materialien befinden sich in der Tat mitunter nicht in Händen der Anklage/der Ermittlungsbehörde, so dass diese erst einmal angewiesen werden muss, die besagten Materialien von einer anderen Stelle zu besorgen, wo diese sich befinden (Diverse Anträge 9322/99 Massraua N. gegen den Staat Israel, Urteile nun daled (1), 376). Allerdings geht man dabei davon aus, dass die Materialien existieren.

 

Die Frist zur Einreichung eines Antrags

Eine weitere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob ein Angeklagter zu jedem Zeitpunkt berechtigt ist, einen Antrag auf Einsichtnahme in Ermittlungsmaterial zu stellen, oder ob dieses Recht zeitlich befristet ist?

Im oben zitierten Fall Aviad Visuli hieß es, der Gesetzgeber habe die Frist für das Einreichen von Anträgen gemäß Artikel 74 nicht begrenzt, weil er davon ausging, dass es das Interesse des Angeklagten sei, dies zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu tun. Weiter geht man nicht zuletzt auf Grund praktischer Erfahrung davon aus, dass die Notwendigkeit, einen solchen Antrag einzureichen, sich im Zusammenhang mit diversen Entwicklungen im Verlauf der Bearbeitung einer Akte ergäbe. Aus diesem Grund hielt es das Gericht für falsch, eine Frist für das Einreichen von Anträgen festzulegen.

Dabei ist es aber möglich, dass das Gericht einen Antrag, der mit großer Verzögerung eingereicht wurde, genau aus diesem Grund ablehnt (siehe: diverse Strafanträge 3484/04 Mordechai Hasan gegen den Staat Israel, Takdin-oberstes Gericht (2) 2004, 589.

 

Offenbarung vor Einreichen einer Anklageschrift

Manchmal muss ein Verdächtiger auf gegen ihn erhobene Anschuldigungen reagieren, noch bevor eine Anklageschrift eingereicht wurde. Das geschieht im Rahmen eines als »Anhörung« bezeichneten Verfahrens, bei dem beschlossen wird, ob eine Anklageschrift gegen den Verdächtigen eingereicht wird. Die »Anhörung« ist eine so komplexe Thematik, dass sie eine eigene Bezugnahme verdienen würde, für unser Thema wollen wir uns jedoch mit dem begnügen, was dabei zum Umfang von Ermittlungsmaterial gesagt wurde, das dem Verdächtigen vor Stattfinden der »Anhörung« enthüllt wird. Das oberste Gericht bestimmte, man habe einem Verdächtigen »das Wesentliche des Ermittlungsmaterials« auszuhändigen, eine Definition, die selbst schon zahlreiche Probleme in sich birgt.

Im Rahmen von Oberstes Gericht 4388/08 Uri Shmuel gegen den Rechtsberater der Regierung und andere vom 11.6.08 verhandelte Richter Rubinstein über das Thema und bestimmte:

»Hier ist somit der Ausgleich: Paragraf 60a selbst spricht einem Verdächtigen in seinem Wortlaut und seinem Zweck kein Recht zu, in den Entwurf der Anklageschrift einzusehen; um jedoch eine effektive, ihres Namens würdige »Anhörung« durchzuführen, ist es angebracht, dass der Angeklagte möglichst detailgenau weiß, mit welchen Anschuldigungen er konfrontiert ist, und auf Grund von welchem Sachverhalt. Der Umfang der Informationen und die Entscheidung, ob ein Fall es rechtfertige oder ermögliche, den Entwurf der Anklageschrift auszuhändigen, muss für jeden Fall umstandsspezifisch bestimmt werden, wobei der Indikator die Fairness gegenüber dem Beschuldigten ist, ohne (dabei) ein anderes öffentliches Interesse zu schädigen. Meines Erachtens gilt, ohne hierbei etwas Allgemeingültiges zu verankern, dass die Anklage in Fällen, wo eine Anklageschrift fertig und vorhanden ist, erwägen sollte, ob sie diese dem Verdächtigen übermittelt. In der Regel genügt es, eine Aufstellung der wesentlichen Tatsachen und Strafparagrafen auszuhändigen, auf deren Basis das Einreichen einer Anklageschrift erwägt wird, mit Beilage des wichtigsten Ermittlungsmaterials; dadurch kann der Verdächtige sich auf die Anhörung einstellen und seine Argumente entsprechend vorbereiten.«

 

Zusammenfassung

Wie wir in diesem Artikel zu zeigen versuchten, hat sich im Lauf der Jahre sowie infolge zahlreicher Gerichtsurteile die Praktik entwickelt, dass das Gericht sowohl die Relevanz des angeforderten Ermittlungsmaterials für die verhandlungsgegenständliche Anklage, als auch den Einfluss des besagten Materials auf die Klärung der Anklageschrift und auf die Verteidigungsführung des Angeklagten prüft.

Im oben zitierten Fall Biton Ronit fasste das Gericht diese Regel wie folgt zusammen:

»Das Gesetz definiert nicht eindeutig, was »Ermittlungsmaterial« ist, so dass die Herauskristallisierung dieses vagen Inhalts praktisch mittels eines umfangreichen Korpus von Urteilen entstand, die bestimmten, es handle sich um Material, das für eine strafrechtliche Verurteilung relevant, von der Polizei im Verlauf der Ermittlungen gesammelt und der Anklage übergeben worden sei (diverse Strafanträge 9322/99 Massrauva gegen den Staat Israel, Urteile nun daled (1) 37 6,381). Die Rechtsprechung fügte hinzu und erweiterte den Begriff auf eine Weise, indem sie darin abgesehen vom vorhandenen Material auch Material miteinschloss, das sich nicht in Händen der Anklage befindet und/oder dieser bekannt ist, sondern an einem anderen Ort, wo die Anklage darauf zugreifen kann.

Während die Anklage naturgemäß bestrebt ist, die Bedeutung des Begriffs auf ihr übermittelte Beweise wie zum Beispiel Geständnisse, Berichte und Gegenstände zu begrenzen, ist die Verteidigung bestrebt, dessen Bedeutung auszudehnen und mit seiner Hilfe und unter seinem Schutz jedes Material zu bekommen, das die Polizei angesammelt hat und das die Verteidigung des Beschuldigten beeinflussen könnte, ob es sich nun um zulässige oder um unzulässige Beweise handle, ob es sich nun um Geständnisse und Gegenstände handle, die als Beweise dienen könnten, ebenso wie um jede Art von Information inklusive Gutachten und interne Einschätzungen der Ermittlungsbehörde.

Dabei gilt, dass die Frage, ob ein bestimmtes Material dem Begriff »Ermittlungsmaterial« zuzuordnen sei oder nicht, die ja die Hauptfrage darstellt, mit der wir es zu tun haben, vom Gericht individuell für die jeweilige ihm vorliegende Akte beurteilt wird; dabei hat es jene flexible Prüfung anzuwenden, die von der Rechtsprechung festgelegt wurde und auf den Regeln des gesunden Menschenverstandes und der Tendenz basiert, dem Verteidiger eine faire Chance zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu geben. Daher prüft das Gericht die Relevanz des Materials für eine Anschuldigung und den Angeklagten, die Art des Materials, dessen Wesen und das Maß seiner Relevanz für die Themen, die in dem Strafverfahren verhandelt werden, in dessen Rahmen es beantragt wurde.«

Zusammenfassend gilt für die Aussichten des Antrags eines Angeklagten auf Einsichtnahme in das in Händen der Anklage befindliche Material mit dem Argument, es handle sich dabei um Ermittlungsmaterial – dass das Gericht diesen nach den Umständen des jeweiligen spezifischen Falls prüfen wird. In der Regel gilt: wenn ein Angeklagter nachweisen kann, dass das angeforderte Material auch für die Angelegenheit relevant ist, um die es in der Anklageschrift geht, und ihm bei seiner Verteidigung helfen kann, wird das Gericht dazu tendieren, seinem Antrag stattzugeben.

Bekanntlich geht es bei einem Gerichtsverfahren um Beweise und die Fähigkeit einer Prozesspartei, diese Beweise zu erlangen. Daher wird ein Angeklagter gut damit beraten sein, sorgfältig zu prüfen, welche der sich in Händen der Anklage befindlichen Materialien, zu seiner Verteidigung beitragen könnten, und sich zu bemühen, diese zu bekommen.

Dieser Artikel entstand mit der freundlichen Unterstützung von Herrn Naor Magen-Mamo.

 

Sämtliche Rechte bleiben dem Verfasser, Rechtsanwalt Joseph Weinrauch, vorbehalten.

Email: J@pw-law.co.il

 

* Mit Stern gekennzeichnet sind dem besseren Verständnis dienende Worteinfügungen des Übersetzer.

** In diesen Fällen wurden die hebräischen Buchstaben als Aktenbezeichnung beibehalten.

 

 
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